Musik

Ukrainische Musik im Kriegszustand: Wie Künstler zwischen Drohnen und Liebestod neue Klangwelten erschaffen

today02.05.2025 4

Hintergrund
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In einer Zeit, in der die Ukraine um ihr Überleben kämpft, erlebt ihre Musikszene eine bemerkenswerte Renaissance. Trotz oder vielleicht gerade wegen des Krieges blüht eine experimentierfreudige und stilistisch vielfältige Landschaft auf, die weltweit Aufmerksamkeit erregt. Das zeigt sich besonders eindrucksvoll an neuen Alben wie „Liebestod“ von Alexey Shmurak und Oleh Shpudeiko, der ersten Veröffentlichung des experimentellen Labels „Kyiv Dispatch“.

Zwischen Melancholie und elektronischen Beats

Ukrainische Musik im Kriegszustand: Wie Künstler zwischen Drohnen und Liebestod neue Klangwelten erschaffen

Das Album „Liebestod“ eröffnet mit dem Track „Heartily“, der sofort in seinen Bann zieht – eine faszinierende Mischung aus melancholischen Klaviermelodien und elektronischen Beats. Der Titel des Albums ist nicht zufällig gewählt; er nimmt Bezug auf Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“ und thematisiert die spannungsreiche Beziehung zwischen Liebe und Tod – ein Thema, das in Kriegszeiten besondere Relevanz erhält.

Oleh Shpudeiko, einer der beiden Künstler hinter dem Werk, erklärt im Interview: „‚Liebestod‘ ist für mich eine abstrakte Idee – sie vereint alle Lieder dieser Platte.“ Diese Verbindung von Liebe und Tod als zentrale Motive reflektiert die emotionale Komplexität, die Menschen in unsicheren Zeiten durchleben.

Kreative Köpfe im Krieg

Die beiden Künstler verfolgen unterschiedliche Lebenswege seit Kriegsbeginn. Oleh Shpudeiko, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Heinali, lebt mittlerweile in Deutschland. Er hat sich einen Namen mit ungewöhnlichen Elektronik-Kompositionen gemacht. Sein Album „Kyiv Eternal“ aus dem letzten Jahr verarbeitet Feldaufnahmen aus der Vorkriegszeit und schafft so eine klangliche Zeitkapsel eines friedlichen Kyjiw.

Alexey Shmurak hingegen ist in der ukrainischen Hauptstadt geblieben und bleibt dort aktiv. Seine Kompositionen zeichnen sich durch die Kombination traditioneller akustischer Instrumente mit experimentellen Elementen aus. Als charakteristisches Stilmittel nutzt er Ironie – vielleicht ein notwendiger psychologischer Mechanismus, um mit der Kriegsrealität umzugehen.

In einem Interview mit dem Magazin „A Closer Listen“ beschreibt Shmurak die Entstehungsgeschichte des Albums: „Die Entstehung dieses Albums ist das Ergebnis einer Konvergenz spezifischer Umstände. 2021 entschied sich die Musikproduzentin Sasha Andrusyk, ein Label zu gründen, das Musik veröffentlicht, die sie interessiert. Oleh und ich hatten zwischen 2014 und 2018 bereits mit Sasha zusammengearbeitet … Sie schlug vor, dass wir ein gemeinsames Album machen.“

Literarische Einflüsse als künstlerische Inspiration

Besonders bemerkenswert ist, wie stark literarische Vorlagen das Album geprägt haben. „Das Album enthält zwei Tracks nach englischen romantischen Gedichten, eines davon von John Keats, eines auf Ukrainisch von Volodymyr Svidzynsky und mehrere auf Russisch“, erklärt Shmurak. „Paradoxerweise wurden gerade jene beiden Stücke (‚Quietly‘ und ‚Ode to a Nightingale‘), die am stärksten mit Tod und Krieg assoziiert werden können, fast vollständig im Jahr 2021 geschrieben – also sechs Monate vor Beginn des großangelegten Krieges.“

Die Arbeiten des ermordeten Dichters Wolodymyr Swidsinskyj sowie Zitate von Mazepa fließen ebenfalls in die Kompositionen ein und verleihen ihnen eine zusätzliche historische und kulturelle Tiefe.

Eine vielfältige Musiklandschaft im Widerstand

„Liebestod“ ist bei weitem nicht das einzige bemerkenswerte Album aus der Ukraine in diesen Tagen. Die Sängerin Viktoriia Vitrenko hat mit „Limbo“ ein bemerkenswertes Werk geschaffen, in dem sie Liederzyklen ihrer in Belarus inhaftierten Kollegin Maria Kalesnikava widmet. Ein weiteres Highlight ist Dmytro Nikolaienkos „Love-Fidelity or Hiss Goodbye“, das beim Label Muscut erschienen ist.

Für Geschichtsinteressierte bietet die Sammlung „Even the Forest Hums: Ukrainian Sonic Archives 1971–1996“ einen faszinierenden Einblick in die ukrainische Musikgeschichte der sowjetischen und frühen postsowjetischen Zeit.

Labels als kulturelle Bewahrer

Eine wichtige Rolle in der Erhaltung und Förderung ukrainischer Musik spielen Labels wie Muscut, das sich auf die Veröffentlichung seltener Tapes aus dem ukrainischen Underground spezialisiert hat. Erst vor zwei Monaten feierte das Label seinen 13. Geburtstag – ein bemerkenswerter Meilenstein in diesen turbulenten Zeiten.

Auch das Archivierungsprojekt Shukai leistet wichtige Arbeit, indem es bedeutende Kompilationen des ukrainischen Undergrounds veröffentlicht und so dafür sorgt, dass diese Musik nicht in Vergessenheit gerät.

Musik mit Mission

Was die aktuelle ukrainische Musikszene besonders auszeichnet, ist ihr gesellschaftliches Engagement. Ein Teil der Erlöse aus den Albumverkäufen geht an NGOs, die beim Wiederaufbau zerstörter Häuser helfen. Projekte wie „Drones for Drones“ unterstützen den Kauf von Drohnen für ukrainische Soldaten – eine direkte Verbindung zwischen kulturellem Schaffen und Überlebenskampf.

Der Korrespondent Clemens Poole wird in diesem Monat mit einer Soundinstallation zur Architekturbiennale in Venedig vertreten sein – ein weiteres Zeichen dafür, dass ukrainische Kunst und Musik auch international wahrgenommen werden.

Die ukrainische Musiklandschaft zeigt eindrucksvoll, wie Kreativität selbst unter extremsten Bedingungen gedeihen kann. Sie ist Ausdruck von Widerstandskraft, kultureller Identität und dem unbedingten Willen, trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen. In den Klängen dieser neuen Alben findest du nicht nur musikalische Innovation, sondern auch die ganze emotionale Komplexität eines Landes im Krieg – Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Tod, Widerstand und Verletzlichkeit.

Geschrieben von: RadioMonster.FM

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