Wirtschaft & Politik

Datenschutz und Bundeswehr: Warum eine Million Reservisten nicht erreichbar sind

today29.05.2025 38

Hintergrund
share close

Die Bundeswehr steht vor einem massiven Problem: Obwohl Deutschland dringend seine Verteidigungsfähigkeit stärken muss, kann die Truppe rund eine Million potenzielle Reservisten nicht kontaktieren. Der Grund dafür sind ausgerechnet die strengen Datenschutzgesetze in Deutschland und der EU. Während der Rundfunkbeitrag dich kurz nach einem Umzug problemlos findet, hat die Bundeswehr keine Möglichkeit, ehemalige Soldaten zu erreichen – eine Situation, die Experten als „verrückt“ bezeichnen.

Wie der Datenschutz die Verteidigungsfähigkeit ausbremst

Datenschutz und Bundeswehr: Warum eine Million Reservisten nicht erreichbar sind

Seit der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 gibt es keine systematische Erfassung ehemaliger Wehrpflichtiger mehr. Die Bundeswehr kennt zwar die Namen vieler ehemaliger Soldaten, hat aber keine aktuellen Kontaktdaten. Patrick Sensburg, Präsident des Verbandes der Reservisten der Deutschen Bundeswehr, bringt das Problem auf den Punkt: „Wir haben ihre Kontaktdaten verloren. Es ist verrückt.“

Besonders bitter: Unter den nicht erreichbaren Reservisten befinden sich etwa 93.000 Afghanistan-Veteranen, die Sensburg als „reservistisch hochpotent“ bezeichnet. Diese Personen haben wertvolle Einsatzerfahrung, die für die Bundeswehr von unschätzbarem Wert wäre. Doch ohne Kontaktmöglichkeit bleiben diese Kompetenzen ungenutzt.

Ambitionierte Ziele ohne realistische Grundlage

Die Pläne der Bundesregierung für die Bundeswehr sind ehrgeizig: Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) will die Truppe zur „konventionell stärksten Armee Europas“ machen. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat das Ziel ausgegeben, dass die Bundeswehr bis 2029 kriegstüchtig sein soll. Dafür werden bis Ende des Jahrzehnts 200.000 aktive Soldaten und 260.000 einsatzbereite Reservisten angestrebt.

Aktuell verfügt die Bundeswehr jedoch nur über etwa 180.000 aktive Soldaten und rund 60.000 Reservisten. Um die Lücke zu schließen, wäre der Zugriff auf die nicht erreichbaren Reservisten entscheidend. Sensburg betont: „Selbst wenn nur ein Viertel dieser Million zurückkehme, hätten wir unser Ziel erreicht.“

Datenschutz vs. nationale Sicherheit

Die Situation erscheint paradox: Während der Beitragsservice des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dich problemlos ausfindig machen kann, wenn du umziehst, ist es der Bundeswehr nicht möglich, mit potenziellen Reservisten in Kontakt zu treten. Sensburg kritisiert: „Es ist absurd, dass Bürger wenige Wochen nach einem Umzug kontaktiert werden, wir aber niemanden erreichen können, der in unseren Unterlagen steht.“

Das Verteidigungsministerium erkennt das Problem: „Der Schutz personenbezogener Daten ist wichtig“, erklärt ein Sprecher. Gleichzeitig prüfe man aber kontinuierlich, wie die Datenschutzregelungen mit den Anforderungen der Reservistenarbeit und einer neuen Wehrdienstform in Einklang gebracht werden können. Seit 2021 werden ausscheidende Soldaten immerhin automatisch als Reservisten registriert – doch das löst das Problem der vergangenen Jahre nicht.

Die Zahlen hinter dem Problem

Der Reservistenverband betreut theoretisch rund zehn Millionen Personen mit militärischem Hintergrund. Allerdings sind etwa neun Millionen davon über 65 Jahre alt und kommen für einen aktiven Reservistendienst nicht mehr in Frage. Von der verbleibenden Million fehlen die aktuellen Kontaktdaten – ein enormes unerschlossenes Potenzial.

Marc Lemmermann, Vizepräsident für Internationale Zusammenarbeit im Reservistenverband, bestätigt: „Die Namen hat die Bundeswehr im Datenbestand. Nur die Adressen hat die Bundeswehr nicht im Datenbestand.“ Die Verbindung zu den Einwohnermeldeämtern wurde mit dem Ende der Wehrpflicht 2011 gekappt.

Was kann getan werden?

Um das Problem zu lösen, müßten die Datenschutzbestimmungen angepasst werden. Die Bundeswehr benötigt ähnliche Zugriffsrechte auf Meldedaten wie andere Behörden. Während private Unternehmen Daten nur für den ursprünglich vorgesehenen Zweck verwenden dürfen, haben Behörden bereits heute weitergehende Rechte – allerdings nur, wenn dies gesetzlich erlaubt ist oder ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht.

Angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Lage in Europa könnte argumentiert werden, dass genau ein solches öffentliches Interesse vorliegt. Boris Pistorius hat bereits im Sommer 2024 deutlich gemacht: „Wir brauchen nach Einschätzung der Bundeswehr und der NATO rund 200.000 Reservisten mehr.“

Der Reservistenverband erhält jährlich 24 Millionen Euro vom Staat zur Betreuung und Ausbildung ehemaliger Soldaten. Doch ohne die Möglichkeit, die potenziellen Reservisten überhaupt zu kontaktieren, können diese Mittel nicht effizient eingesetzt werden.

Ein Sicherheitsrisiko durch Datenschutz?

Die Datenschutzdebatte ist kein neues Thema in Deutschland. Die Wirtschaft klagt seit Jahren über zunehmende Regelungen, die Milliardensummen kosten. Eine KfW-Studie zeigt, dass der Mittelstand rund 61 Milliarden Euro jährlich in Datenschutzmaßnahmen investiert.

Im Fall der Bundeswehr geht es jedoch um mehr als wirtschaftliche Interessen – es geht um die Verteidigungsfähigkeit des Landes. Die Frage, die sich Politik und Gesellschaft stellen müssen, lautet: Wie kann ein angemessener Ausgleich zwischen dem Schutz persönlicher Daten und den Erfordernissen der nationalen Sicherheit gefunden werden?

Die aktuelle Situation zeigt deutlich, dass hier Handlungsbedarf besteht. Wenn du in der Vergangenheit Wehrdienst geleistet hast und bereit wärst, als Reservist zur Verfügung zu stehen, kann die Bundeswehr dich derzeit nicht finden – selbst wenn sie es wollte.

Kontaktdaten verloren

Geschrieben von: RadioMonster.FM

Rate it

AD
AD